Farzana

Im Januar 1992 hörten Manfred und Erika Kampe aus Hamm einen Aufruf über das lokale Radio: Das HAMMER FORUM hatte nach seinem ersten Einsatz in Afghanistan 12 schwerverletzte Kinder mit nach Deutschland gebracht und suchte nun nach Gastfamilien. Kampes zögerten nicht lange und entschieden sich, ein Kind bei sich aufzunehmen. Nur einen Monat später zog die 11-jährige Farzana bei ihnen ein. Ein schüchternes, dunkelhaariges Mädchen, das kein Wort deutsch sprach und im Rollstuhl gefahren werden musste. Geplant war zunächst ein Aufenthalt von drei Wochen. Dass aus diesen drei Wochen am Ende insgesamt dreieineinhalb Jahre werden würden, ahnte damals noch niemand.

Sechs Jahre zuvor war Farzana bei einem Luftangriff der Russen auf ihr Heimatdorf in Ghorband (ca. 100km nördlich von Kabul) gestürzt und hatte sich das linke Hüftgelenk gebrochen. Weil die Verletzung niemals fachgerecht behandelt wurde, wuchsen die Knochen falsch zusammen. Daraus resultierte eine Fehlstellung der Hüfte und eine schmerzhafte Knochenenhautentzündung. Die Ärzte des HAMMER FORUM hatten Farzana in einem Krankenhaus im pakistanischen Peshawar entdeckt, denn nachdem ihr Vater ermordet worden war, waren die Geschwister und die Mutter nach Pakistan geflüchtet. Erst in Deutschland wurde jedoch erkannt, dass die Verletzungen der Hüfte gar nicht Farzanas schlimmste Erkrankung waren.

Erika Kampe hatte abends beim Zähne putzen bemerkt, dass das Mädchen aus dem Mund blutete. Die Untersuchungen beim Zahnarzt ergaben, dass sich Farzana bei einem weiteren Luftangriff im Jahr 1987 beide Kiefergelenke gebrochen hatte. Weil sie daraufhin den Mund nicht mehr richtig öffnen konnte, wuchsen die Zähne schief in verschiedene Richtungen und es entwickelte sich eine schwere Parodontose.

Was nun in Deutschland folgte, war eine wahre Odyssee unterschiedlicher Operationen und Behandlungen. In einer Bremer Klinik wurde Farzanas Hüftgelenk getrennt und in neuer Position festgesetzt, in der medizinisch technischen Hochschule in Hannover fertigte man aus zwei Rippen des Mädchens zwei neue Kiefergelenke, die in ihren Kiefer transplantiert wurden. Ganz langsam lernte sie wieder das Gehen, auch wenn das Hüftgelenk steif blieb. Ganz langsam lernte sie auch wieder feste Nahrung zu sich zu nehmen, die Zähne wurden mit einer Klammer gerichtet. Bedeutend schneller lernte sie dagegen die deutsche Sprache. Am Schreibtisch brachte Erika Kampe dem Mädchen das Wissen der ersten Klasse bei.

Ab 1993 besuchte Farzana sogar die zweite Klasse der Grundschule im Grünen Winkel. Da sie nicht besonders groß ist, fiel das inzwischen 12-jährige Mädchen optisch zwischen den übrigen Zweitklässlern kaum auf. Ohne Probleme meisterte sie sowohl die zweite, als auch die dritte Klasse. Erst 1995 war sie soweit genesen, dass sie zu ihrer Familie nach Afghanistan zurückkehren konnte. Zu Familie Kampe behielt sie jedoch bis heute den Kontakt. Über die Jahre entstand ein reger Telefonaustausch, seit einiger Zeit besteht dazu eine deutsch-afghanische Verbindung via Facebook und Skype. Vier Mal kam Farzana für medizinische Nachbehandlungen inzwischen nach Deutschland und jedes Mal wohnte sie natürlich wieder bei ihren Gasteltern.

Seit drei Wochen ist die junge Frau wieder bei ihrer ehemaligen Gastfamilie untergebracht. Ihre Hüfte soll noch einmal operiert werden. In ihrem Heimatland konnte Farzana inzwischen zur Hebamme ausgebildet werden. In ihrem abgelegenen Bergdorf ist sie die einzige Geburtshelferin vor Ort. Da sie nach wie vor schlecht laufen kann, wohnt sie bei ihrer Schwester, in der Nähe eines Geburtshauses. Natürlich ist die medizinische Ausstattung dieses Hauses kaum mit deutschem Standard zu messen. Doch hier zahlte sich jetzt der Kontakt zum HAMMER FORUM erneut aus. Farzana kann bei ihrer Rückkehr extra Gepäck mitnehmen und wird von Hamm mit medizinischem Material ausgestattet.

Dank und Aufmerksamkeit ist Familie Kampe nicht wichtig. Darauf angesprochen, verweisen sie immer wieder auf die Helfer im Hintergrund. „Das Schönste ist für uns zu sehen, was aus Farzana geworden ist“, erzählen sie mit strahlenden Augen.